Die Revolution von 1848/49 europäisch denken

Die Revolution von 1848/49 europäisch denken. Erforschen, Erinnern und Vermitteln eines gemeinsamen demokratiegeschichtlichen Kapitels

Organisatoren
Friedhof der Märzgefallenen Berlin; Bundesarchiv-Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte Rastatt; Historisches Museum Frankfurt
PLZ
10178
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
16.03.2023 - 17.03.2023
Von
Felix Gräfenberg, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Münster

Die Berliner Barrikadenkämpfe vom 18. und 19. März sind ein zentraler Erinnerungsort der Revolution von 1848/49 in Deutschland. Anlässlich ihres 175. Jahrestages fand am 16. und 17. März 2023 die Europäische Jahrestagung des Jubiläumsnetzwerkes „175 Jahre Revolution 1848/49“ im Berliner Humboldt-Forum statt. Gemeinsam mit dem daran anschließenden „Wochenende der Demokratie“, markierte die Tagung so zum 175. Jahrestag des Berliner Revolutionsgeschehens den Auftakt für zahlreiche Veranstaltungen, die noch etwa bis Mai 2024 im gesamten Bundesgebiet angekündigt sind. Es war die mittlerweile dritte Jahrestagung des Jubiläumsnetzwerks „175 Jahre Revolution 1848/49“, das aktuell rund 180 Mitglieder aus den Bereichen der historischen Forschung, historisch-politischer Bildung, musealer Vermittlung sowie der Gedenkstättenarbeit umfasst. Insgesamt 130 Teilnehmer:innen aus sechs europäischen Ländern folgten der Einladung zu der zweitägigen Konferenz, die unter der Federführung der Berliner Gedenkstätte „Friedhof der Märzgefallenen“ in Kooperation mit der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen der deutschen Geschichte des Bundesarchivs in Rastatt und dem Historischen Museum in Frankfurt organisiert wurde.

Waren die ersten zwei bundesweiten Netzwerktreffen in Rastatt 2021 und Frankfurt 2022 Arbeitstagungen, bei denen der Austausch zu konzeptionellen und praktischen Fragen von Vermittlung von und Erinnern an den „Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte“ im Vordergrund stand, so verfolgte die diesjährige Tagung ein doppeltes Ziel: Zum einen schloss sie an die Formate der vergangenen Netzwerktreffen an; sie war zum anderen als Jubiläumstagung an einem historischen Ort – das Stadtschloss war im März 1848 einer der zentralen Schauplätze in Berlin – auch ein festlicher Höhepunkt der Netzwerkarbeit und des Revolutionsjubiläums. Dies spiegelte sich auch im Programm der Tagung wider. So standen am ersten Tag akademische Vorträge und Podiumsdiskussionen vor großer Runde an, die sich dezidiert auch an eine interessierte Öffentlichkeit richteten. Am zweiten Tag waren dann die aus den Vorjahren bewährten Workshopformate in Kleingruppen angesetzt, die zuvorderst die Praktiker:innen im Netzwerk adressierten.

Entsprechend des repräsentativeren Charakters des ersten Tages war dieser auch gerahmt. Eröffnet wurde die Veranstaltung auf dem Vorplatz des Humboldt-Forums mit der Einweihung eines temporären Denkmals durch die Berliner Staatssekretärin für Engagement-, Demokratieförderung und Internationales ANA-MARIA TRĂSNEA (Berlin), die Vorsitzende des Paul Singer-Vereins SIGRID KLEBBA (Berlin) und den Generalintendanten des Humboldt-Forums HARTMUT DORGERLOH (Berlin). Das Denkmal war in Rahmen eines partizipativen Projekts mit Berliner Schüler:innen entwickelt worden und sollte durch Spiegelelemente die Verantwortung und Handlungsmacht jeder:jedes Einzelnen reflektieren. Den nicht weniger repräsentativen Abschluss des ersten Tages machte die „Festveranstaltung anlässlich des 175. Jahrestages der Berliner Märzrevolution von 1848“, die in Kooperation mit dem Abgeordnetenhaus von Berlin in den Räumen des ehemaligen Preußischen Landtags und heutigen Parlamentsgebäude des Bundeslands Berlins stattfand.

Von diesen rahmenden Elementen eingefasst begrüßte SUSANNE KITSCHUN (Berlin) die Teilnehmer:innen zum inhaltlichen Teil der Tagung. Dabei betonte sie drei zentrale Aufgaben, die sich das Netzwerk bereit in Rastatt 2021 gegeben hatte und seitdem die Leitlinie für die Arbeit des Netzwerks, mithin auch der Jubiläumstagung bestimmen. So gelte es zum einen Demokratiegeschichte auch von unten zu erzählen und so Mitglieder von Unterschichten, Frauen und jüdische Menschen neben den großen Namen der Politikgeschichte sichtbar zu machen. Zum anderen vereine die Mitglieder des Netzwerks das Ziel, die Revolution von 1848/49 in der öffentlichen Wahrnehmung stärker sichtbar zu machen. Schließlich solle die nationalgeschichtliche Engführung der Revolutionsgeschichte überwunden und um europäische und transnationale Perspektiven ergänzt werden. JOHANN GERLIEB (Berlin) wies daran anschließend in seiner Einführung auf den europäischen Charakter der Revolution von 1848/49 hin, der nicht erst von der Forschung ex post herbeigeschrieben worden, sondern auch für die Akteur:innen der Zeit präsent gewesen sei – und leitete so zum inhaltlichen Teil der Tagung über, der unter dem Motto „Die Revolution von 1848/49 europäischen denken“ stand

In der Folge widmeten sich am ersten Tag vier Sektionen der Revolution von 1848/49. Moderiert von HARALD ASEL (Berlin) diskutierten beim Auftaktpodium (Sektion 1) die österreichische Historikerin ALEXANDRA BLEYER (Seeboden), der Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung THOMAS KRÜGER (Berlin) und der Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrums in Gdańsk BASIL KERSKI (Danzig) über den Platz der Revolution von 1848/49 in der europäischen historisch-politischen Bildungsarbeit. Dabei ging es um die Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken des Revolutionserinnerns im europäischen Kontext.

Bleyer kam in dieser Runde die Aufgabe der historischen Einordnung und Bewertung der Revolution von 1848/49 zu. Während in der öffentlichen Wahrnehmung die Revolution gemeinhin als „gescheitert“ gilt, plädiert sie dafür, 1848/49 auch als Erfolgsgeschichte zu begreifen; das heißt, auch mit den Widersprüchen der historischen Ereignisse zu leben. Demnach sei die Revolution mit Blick auf die „großen Ziele“ von Nation, Verfassung und Demokratie zwar nicht erfolgreich gewesen; gleichwohl gelte es anzuerkennen, dass 1848/49 für Frauen- und Arbeiterbewegung sowie das politische Leben grundsätzlich eine bedeutende Zäsur, wenn nicht Initialzündung gewesen sei. Mit der Rahmung als „Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution“ bietet Bleyer bereits eine Erzählung an, der es gelingt, allzu eindimensionale Meistererzählungen umzuschreiben, anstatt diese ‚nur‘ zu dekonstruieren. Angesichts des Umstandes, dass Vermittlung ein affirmatives Element benötigt, ein zentraler Mehrwert gerade für die Praktiker:innen des Netzwerks aus der Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit liegen.

Kerski – selbst kein Historiker, sondern Politikwissenschaftler – betont die Bedeutung von Geschichte für das Verständnis von heutiger politischer Kultur und Tradition. Die Rückschau in die vergangenen zwei Jahrhunderte offenbare so Kontinuitäten über die markanten Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg. Daher plädiert er zum einen dafür, 1848 nicht isoliert zu betrachten, sondern grundsätzlich nach politischen Traditionslinien zu fragen. Dabei sei es wichtig, neben demokratische, auch autoritäre Traditionen in den Blick zu nehmen. Zum anderen spricht er sich dafür aus, eine transnationale Perspektive einzunehmen. Insbesondere gelte es, Erzählungen zu überwinden, die Demokratisierung als ein westeuropäisches Projekt verstehen, und stattdessen auch die demokratischen Traditionen mittel- und osteuropäischer Staaten – auch in ihrer transnationalen Bedeutung – anzuerkennen. Beispielhaft nennt Kerski hier etwa die polnische Verfassung von 1791 als traditionsstiftende Zäsur auf dem Weg zum demokratischen National- und Verfassungsstaat. Die Vergegenwärtigung der 200-jährigen Demokratiegeschichte in Europa helfe so heute demokratische Traditionen zu stärken und gegenläufigen Entwicklungen entgegenzusetzen.

Krüger betont schon qua Amtes die Bedeutung politischer Bildung. Er weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte subkutan immer eine Beschäftigung mit der eigenen Gegenwart sei. Gerade mit Blick auf 1848/49 kommt dabei der Rolle der „Nation“ eine besondere Bedeutung zu: So habe das Konzept von Nation 1848/49 ein emanzipatives Element gegenüber dem frühneuzeitlichen Fürstenstaat besessen; Nation sei aber immer auch exklusiv, sprich: ausschießend. Nationale Erinnerungstage zur Revolution von 1848/49 böten so auch die Gefahr einer Vereinnahmung von heutigen nationalistischen und antidemokratischen Strömungen im politischen Spektrum der Bundesrepublik. Entsprechend gelte es, 1848/49 nicht als Ausgangspunkt einer teleologischen Erzählung zu wählen und die Revolution nicht in einen „nationalen Container“ zu packen, sondern in seinen Ambivalenzen darzustellen.

Angesichts dieser Zielsetzungen konzeptioneller Art sah sich das Podium mit der Frage nach deren Operationalisierbarkeit für die historisch-politische Bildungsarbeit konfrontiert. Wichtig sei es demnach, die Interessen der Zielgruppen nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade Ereignis-, Struktur- und Verfassungsgeschichte würden oftmals als trocken und uninteressant wahrgenommen. Angesichts des großen Erfolgs (historischer) Serien stellte sich das Podium die pointierte Frage, was sich von Netflix lernen lasse. Dabei wurden die Potentiale von lebensnaher Darstellung und einer Geschichte von unten betont. Diese sei zum einen für Rezipient:innen leicht greifbar und hätte mehr „Feuer“ als etwa Verfassungsgeschichte und würde zum anderen auch dem historischen Gegenstand der Revolution entgegenkommen. Denn es seien die Menschen auf den Straßen gewesen, die das Element von Aufbruch und Emanzipation vertreten hätten; während die Paulskirche eben doch von konstitutionellen Kräften bestimmt war, die auf eine schnelle Beruhigung der Situation in einem nach wie vor monarchischen System aus gewesen seien. Neben den Mitgliedern revolutionärer Unterschichten werden gerade die sogenannten „Fourty-Eighters“ als Akteursgruppe identifiziert, die sich für die Vermittlung der Revolutionsgeschichte in besonderer Weise eignen. An ihnen zeige sich das Fortleben der Ideen von 1848/49 auch nach dem Scheitern der Reichverfassung ebenso wie die transnationale Verflechtung der europäischen und transatlantischen Demokratiegeschichte. Wie schon bei der ersten Jahrestagung in Rastatt 2021 werden so biografische Erzählungen beziehungsweise Erzählungen entlang von Biografien als probates Vehikel für die Vermittlung der Revolutionsgeschichte ausgemacht.

Ungeachtet der hier angebotenen Erzählung wurde die Bedeutung einer pluralen Erinnerungslandschaft betont. Historisch-politische Bildung zeichne sich im Gegensatz zu Geschichtspolitik gerade durch ihre Multiperspektivität aus. Während letztere durch staatlich orchestrierte Programme Inhalte und Deutungen vorgebe, fördere eine dezentrale Organisation durch zivilgesellschaftliche Initiativen und dergleichen nicht nur die Vermittlung von Demokratiegeschichte, sondern böte selbst einen demokratischen Zugriff auf Geschichte. Dies bedeute allerdings auch, dass man lernen müsse, mit konkurrierenden Deutungen und Lesarten des Revolutionsgeschehens zu leben; dies sogar auch als Stärke einer demokratischen Erinnerungskultur anzuerkennen, statt auf die Allgemeingültigkeit der eignen Erzählung zu beharren.

Die Vorträge der anschließenden drei Sektionen lieferten in der Folge einiges an empirischen Material, um die konzeptionellen Überlegungen der vorangegangenen Diskussionen einzulösen. In jeweils zwei Vorträgen pro Sektion lieferten renommierte Wissenschaftler:innen Einblicke aus der historischen entlang einiger bereits im Podium skizzierten Achsen. Die Referate seien an dieser Stelle in der gebotenen Kürze skizziert:

Sektion 2 fragte nach den transnationalen Verflechtungen der Revolution 1848/49. CLARE PETTITT (Cambridge) betrachtete die Revolution von 1848/49 als Medienereignis. Sie wies zum einen die medialen Neuerungen von 1848/49, die mit dem Aufkommen von Zeitungsillustrationen und der Verbreitung des Telegraphen einhergingen. Dabei betonte sie insbesondere die symbolische Bedeutung eines europäischen Kommunikationsnetzwerks als wirkmächtigen Topos; während die Relevanz der Infrastruktur selbst noch begrenzt gewesen sei. Sie zeichnete dabei zum anderen die Verbreitung und Entwicklung einzelner Motive der Revolution als „serialized revolution“ nach. AXEL KÖRNER (Leipzig) legte in seinem Impuls ein komplexes Gefüge von Verflechtungen, Modelle und Dystopien einer transatlantischen Ideengeschichte frei, das sich nicht in holzschnittartige Kategorien von Fortschritt und Reaktion zwängen lässt. Er zeichnete dabei ein Bild einer differenzierten, wechselseitigen Beobachtung der politischen Systeme. So erschien etwa die Demokratie der USA auch Republikaner:innen oftmals nicht als Vorbild, während der österreichische Kaiserstaat für progressive Kräfte Modellcharakter haben konnte.

In Sektion 3 ging es um den europäischen Aktionismus vom Vormärz bis zur Revolution 1848/49. FABRICE BENSIMON (Paris) widmete sich in seinem Impuls der Chartist Crowd in Kennigton Common 1848. Während diese frühe Arbeiterbewegung gemeinhin als gesichtslose Masse erscheint gelang es ihm durch akribische Analyse der erhaltenen Daguerreotypien weitreichende Erkenntnisse über die Bewegung, ihre soziale Zusammensetzung, Codes, Moden und Symbole zu gewinnen. HELÉNA TÓTH (Bamberg), die bereits in Rastatt einen instruktiven Impuls für das Arbeitsprogramm des Netzwerks gegeben hatte, nahm in ihrem Referat transatlantische Netzwerke zwischen Deutschland, Ungarn und den USA in den Blick und betonte dabei die Bedeutung informeller „Laboratorien“ für die Entwicklung politischen Aktivismus’.

Städtische Milieus und ihre Bedeutung in der europäischen Revolution standen im Mittelpunkt von Sektion 4. RÜDIGER HACHTMANN (Potsdam) stellte die Bedeutung unterbürgerlicher Träger:innen der Revolution 1848/49 heraus und positionierte sich so gegen die Erzählung einer „bürgerlichen Revolution“. GABRIELLA HAUCH (Wien) nahm in ihrem Impuls die geschlechtsspezifischen Handlungsräume der Revolution in den Blick. Hierbei betont sie, dass die Mitte des 19. Jahrhunderts dominante bürgerliche Geschlechterordnung institutionalisierte Politik zwar als rein männlichen Handlungsraum konstituierte; dass die zugrundeliegende Geschlechterdichotomie aber zum einen weniger starr als gemeinhin postuliert war und dass sich zum anderen Frauen um 1848 zusehends von der Zuschreibung des „unpolitischen Geschlechts“ emanzipierten.

Im Festvortrag am Abend befasste sich schließlich CHRISTOPHER CLARK (Cambridge) mit dem Revolutionsgedenken. In einem historischen Abriss wies er darauf hin, dass spätestens seit dem Aufbahren der Märzgefallenen der Deutungskampf begonnen hätte und das Gedenken schon 1848 ein Politikum gewesen sei, das aber schnell wieder an Charisma verloren hätte. Das Auseinanderdriften der Träger:innen der Revolution, dem Klammern an Partikularinteressen und der Niederlage der demokratischen Parteigänger bei den Wahlen zum Paulskirchenparlament habe dabei einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, dass die Revolution heute oftmals als gescheitert gelte. Wobei sich Clark dezidiert dagegen ausspricht, 1848/49 als gescheiterte Revolution zu beschreiben, da sich kohärente Absichten kollektiver Bewegungen nicht abbilden ließen – Scheitern mithin keine brauchbare Kategorie zur Bewertung der Revolution sei. Stattdessen betont Clark die Zäsur von 1848/49, die Möglichkeitsfenster öffnete, Entwicklungen initiierte und an Intensität und Ausdehnung – insbesondere auch in seiner europäischen Dimension – einmalig sei. Dass sich dies nicht in der Geschichtskultur widerspiegle, sei zum einem dem Umstand geschuldet, dass der europäische Erfahrungsraum von nationalen Erinnerungskulturen überlagert und überschrieben würde; zum anderen ständen historische Ereignisse heute überbordenden Erwartungen gegenüber, die schon aufgrund ihrer Historizität nicht zu erfüllen sein.

Die vier Workshops des zweiten Tages griffen demgegenüber Möglichkeiten und Herausforderungen von Erinnerungsarbeit und Vermittlung anhand konkreter Praxiserfahrungen und laufenden Projekten auf. Das daran anschließende Abschlusspodium – moderiert von CLEMENS REHM (Stuttgart) – aus ANKE JOHN (Jena), KERSTIN WOLFF (Kassel), MICHAEL PARAK (Berlin) und ABELINA JUNGE (Hannover) startete mit einer durchaus kritische Bestandsaufnahme der laufenden Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit zu 1848. Gerade zwei Aspekte des Revolutionserinnerns sorgten für eine gewissen Ernüchterung: Angesichts der Erosion demokratischer Institutionen und dem Erstarken autoritärer Bewegungen sei es schwer zu verstehen, wieso das Jubiläum öffentlich so wenig begangen werde. Zum anderen machte Wolff auf eine Rezeptionssperre aufmerksam. Geschichtskulturelle Vermittlungsprogramme und Angebote der historisch-politischen Bildung griffen allzu oft auf tradierte Erzählungen zurück und würden neue Forschungen weitestgehend ignorieren. Angesichts der Jahrzehnte langen Forschung hierzu dürfe man sich nicht mehr die Frage stellen, ob Frauen an der Revolution beteiligt gewesen sein.

Daran schloss sich eine Diskussion aktueller Herausforderungen des Revolutionserinnerns mit Blick auf die Demokratiebildung an. Zentral hierbei war die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit niedrigschwelliger Vermittlung einerseits und der Gefahr unterkomplexer Erzählungen von Demokratiegeschichte, die zur Verfestigung vulgärdemokratischen Überzeugungen führe. So würde der Ausspruch, dass Demokratie erkämpft werden müsse, allzu oft zur leeren Phrase verkommen. Als eine Antwort auf diese Herausforderungen wurde betont, dass es zentrale Aufgabe der Demokratievermittlung auch in der historisch-politischen Bildung, Orientierung innerhalb der komplexen Materie anzubieten, und auf die Vorzüge navigotionaler Zugänge hingewiesen. Dabei sei es wichtig, die Berührungsängste mit digitalen Medien und der Popkultur abzulegen, da gerade hier Menschen zu erreichen sein. Gleichzeitig wurde an die Geduld der Vermittler:innen appelliert. Denn könne nicht erwartet werden, dass einzelne Vermittlungsformate quasi ad hoc einen Schalter bei den Rezipient:innen umlegten.

DOROTHEE LINNEMANN (Frankfurt am Main) und ELISABETH THALHOFER (Rastatt) brachten abschließend die ‚losen Fäden‘, die in den verschiedenen Sektionen und Workshops verfolgt wurden, wieder zusammen und zogen Resümee, wobei sie insbesondere die neu erarbeiteten Möglichkeiten einer europäischen, respektive transnationalen Geschichtsschreibung und -vermittlung betonten. Sie gaben zudem einen Ausblick auf die weitere Arbeit des Netzwerks, die auch mit dem 175. Jahrestags der Berliner Barrikadenkämpfe nicht abgeschlossen ist.

Wie weit der Weg noch hin zu einem gleichermaßen vielschichtigen wie differenzierten Bild der Revolution von 1848/49 noch ist, offenbarte sich spätestens an den folgenden Tagen beim „Wochenende der Demokratie“ in Berlin. So gaben etwa in sogenannten „Revolutionsgesprächen“ teleologische Meistererzählungen und provokante Thesen den Ton an. Auch der gemeinsame Auftritt von Staatsoberhaupt und Berliner Stadtspitzen vor einer reinszenierten Barrikade wirft Fragen auf. Wenn staatliche Funktionsträger:innen den Protest von unten mimen, steht zu befürchten, dass Erinnerungskultur in Erinnerungstheater aufgeht. Es wird Aufgabe des Netzwerks sein, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Entsprechend wichtig erscheint es, dass auch in Zukunft eine konzentrierte Zusammenarbeit von Kulturvermittler:innen, Bildungsstätten und Forschungseinrichtungen stattfindet.

Die nächste Jahrestagung des Netzwerks 175 Jahre Revolution 1848/49 wird vom 3.-4. Juni 2024 in Leipzig stattfinden.

Videomitschnitte der Vorträge des ersten Tags sind mittlerweile auf der Internetpräsenz des Jubiläumsnetzwerks „175 Jahre Revolution 1848/49“ (www.revolution-1848.de) nachschaubar; eine Aufzeichnung des Auftaktpodiums findet sich in der Mediathek des RBB.

Konferenzübersicht:

Sigrid Klebba (Berlin) / Hartmut Dorgerloh (Berlin) / Klaus Lederer (Berlin): Eröffnung eines temporären Denkmals

Eröffnung und Einführung

Susanne Kitschun (Berlin) / Dorothee Linnemann (Frankfurt am Main) / Elisabeth Thalhofer (Rastatt): Eröffnung

Ana-Maria Trăsnea (Berlin): Grußwort

Johann Gerlieb (Berlin): Einführung

Sektion 1: Der Platz der Revolution 1848/49 in der europäischen historisch-politischen Bildungsarbeit
Moderation: Harald Asel (Berlin)

Thomas Krüger (Berlin) / Alexandra Bleyer (Seeboden) / Basil Kerski (Danzig/Gdańsk): Podiumsdiskussion

Sektion 2: Revolution oder Revolutionen? Transnationalen Revolutionsgeschichte
Moderation: Johann Gerlieb (Berlin)

Clare Pettitt (Cambridge): Serialized Revolutions. New Media in 1848/1849

Axel Körner (Leipzig/London): 1848 – eine amerikanische Revolution? Verflechtungen, Modelle und Dystopien einer transatlantischen Ideengeschichte

Sektion 3: Über Grenzen hinweg. Europäischer Aktivismus vom Vormärz bis zur Revolution 1848/49
Moderation: Dr. Dorothee Linnemann (Frankfurt am Main)

Fabrice Bensimon (Paris): London, 10 April 1848: The Photographs and the Chartist Crowd.

Heléna Tóth (Bamberg): Transnationaler Aktivismus. Akteur:innen zwischen Ungarn und Deutschland

Sektion 4: Städtische Milieus und ihre Bedeutung in der europäischen Revolution
Moderation: Elisabeth Thalhofer (Rastatt)

Rüdiger Hachtmann (Potsdam): Die Unterschichten als zentrale Akteure der Revolution von 1848

Gabriella Hauch (Wien): „[...] wenn selbst Frauen sich des politischen Stoffes der Zeit bemächtigen [...]“. Geschlechtsspezifische Handlungsspielräume in der Revolution 1848

Festveranstaltung: Die Revolution von 1848/49 und ihre Relevanz in der aktuellen Zeit

Christopher Clark (Cambridge): Festvortrag

Praxisforum mit parallelen Workshops

Workshop 1: 1848/49 im Stadtraum sichtbar machen
Moderation: Andrej Bartuschka (Rastatt)

Iris Wachsmuth (Berlin): Projekt Modul „Revolutionäres Berlin“

Paul Schmitz, Enrica Natalini (beide Berlin): Projekt Temporäres Denkmal für die Märzrevolution

Workshop 2. Umkämpftes Erinnern - Zwischen europäischer Identität und erstarkendem Nationalismus
Moderation: Dorothee Linnemann (Frankfurt am Main)

Kristian Buchna (Hambach): Rechtspopulistische und nationalistische Vereinnahmung der Revolutionsgeschichte

Jan Ruhkopf (Stuttgart): 100 Köpfe der Demokratie

Workshop 3: The revolution goes on(line) – Herausforderungen digitaler Vermittlungsstrategien von 1848/49 im Zeitalter Sozialer Medien
Moderation: Christina Häberle (Potsdam)

Claudia Spezzano, Angelina Schaefer (beide Frankfurt/Main): Demokratie - Vom Versprechen der Gleichheit

Workshop 4: Eine Revolution unter vielen: Lehrplan vs. Lernort? – Ziele, Ambivalenzen und Grenzen in der historisch-politischen Bildungsarbeit
Moderation: Ulrike Laufer (Essen)

Paul Barone (Offenburg): Schultheaterproduktion "Vision Freiheit"

Martin Brendebach (Berlin): Die Revolution 1848/49 zwischen Schule und Lernort

Tagungsabschluss
Moderation: Clemens Rehm (Stuttgart)

Anke John (Jena) / Kerstin Wolff (Kassel) / Michael Parak (Berlin) / Aelina Junge (Hannover): Abschlusspodium

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